Predigt am 23.11.2008 über Matthäus
25, 1 - 13 -
Drucken
Wer bin ich?
Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner
Zelle
gelassen und heiter und fest wie ein
Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich?
Sie sagen mir oft, ich spräche mit
meinen Bewachern
frei und freundlich und klar, als hätte
ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge
die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz, wie
einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir
sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von
mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein
Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würge mir
einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach
Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach
menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und
kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in
endloser Ferne
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum
Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu
nehmen?
Wer bin ich? Dieser oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein
anderer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein
Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich
wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem
geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon
gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit
mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein
bin ich. O Gott!
Dietrich
Bonhoeffer, in der Haft Berlin Tegel Juni 1944
|